Cover
Title
Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800


Author(s)
Gerhalter, Li
Series
L'Homme Schriften. Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft (27)
Published
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
459 S.
Price
€ 40,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Anna Leyrer, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Die „aktuelle Situation“ der Selbstzeugnisforschung beschreibt Li Gerhalter in ihrer Dissertation „Tagebücher als Quellen. Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800“ so: „Es wurde eine spiralförmige Dynamik in Gang gesetzt: Weil Selbstzeugnisse beforscht wurden, wurden sie gesucht. Weil sie gesucht wurden, wurden sie auch gefunden. Und weil sie jetzt verfügbar waren, konnten sie zunehmend ausdifferenziert beforscht werden – und werden es immer noch.“ (S. 261)

Diese Sätze vermitteln eine Ahnung davon, wie groß und unübersichtlich das Feld der Selbstzeugnisforschung tatsächlich ist, das sich Li Gerhalter vorgenommen hat. Die Arbeit, die 2021 in der L’Homme-Schriftenreihe erschienen ist, wählt eine wissenschaftshistorische Langzeitperspektive auf das wuchernde Forschungsfeld: Gerhalter beginnt ihre Untersuchung von Tagebüchern als wissenschaftliche Quellen mitnichten in den 1980er-Jahren, als das historische Interesse an Tagebüchern und Selbstzeugnissen im Zuge der „Neuen Geschichtsbewegung“ wuchs, sondern mit der Säuglings- und Kleinkinderforschung, die im frühen 19. Jahrhundert begann, mit Elterntagebüchern zu arbeiten. Dabei geht Gerhalter von der These aus, dass die „Konjunkturen der Selbstzeugnis forschung“ nur zusammen mit den „Selbstzeugnis sammlungen“ (S. 11) verständlich werden. Deswegen nimmt sie nicht nur Forscher/innen in den Blick, sondern auch diejenigen, die Sammlungen aufbauen und verwalten – die Archivar/innen –, sowie diejenigen, die Dokumente übergeben, die „Übergeber/innen“ (S. 12).

Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert, die zunächst nur lose gekoppelt erscheinen: Der erste Teil befasst sich auf gut 200 Seiten mit Tagebüchern als „zentrale[r] Datengrundlage“ (S. 31), zuerst in der Fachhistorie der Pädagogik, der Evolutionsbiologie und der Entwicklungspsychologie (Kapitel 1), anschließend in der Jugendpsychologie (Kapitel 2). Er überspannt dabei einen Zeitraum von um 1800 bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Untersucht wird, „für welche Fragestellungen diaristische Aufzeichnungen zu unterschiedlichen Zeiten ausgewertet wurden – und mit welchen Sammlungsstrategien die Quellengrundlagen dafür geschaffen worden sind.“ (S. 251)

Der zweite Teil schließlich befasst sich mit dem Nutzen von Tagebüchern in den Geschichtswissenschaften. Er gliedert sich in ein größeres Kapitel (Kapitel 3) zu den „historisch ausgerichteten Sammlungen“, die seit den 1980er-Jahren im Zuge der stetig anwachsenden Tagebuch- und Selbstzeugnisforschung entstanden sind (S. 27); dieses Wachstum führt Gerhalter auf das „Fehlen der Quellengrundlagen für die geänderten Forschungsinteressen“ (S. 28) zurück. Des Weiteren enthält der zweite Teil ein kleineres Kapitel (Kapitel 4), das exemplarisch ausgewählte Tagebücher von Mädchen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entlang der Analyseachsen des „Zu-schreiben-Beginnens“ und der dem Tagebuch anvertrauten Geheimnisse (S. 360) untersucht.

Im Wesentlichen widmet sich der zweite Teil also einer Darstellung des Forschungsfelds und insbesondere der „Bestandsaufnahme der zurzeit insgesamt verfügbaren Quellenbasis“ (S. 22). Gerhalter präsentiert zunächst einen informativen Überblick über die Sammlungen im deutschsprachigen Raum. Mittlerweile gebe es „zahlreiche Archive, die eigentlich einen anderen Fokus verfolgen“ und dennoch Selbstzeugnisse (jenseits der im Buch sogenannten „Höhenkammliteratur“) im Sinne von „Vor- und Nachlässe[n]“ (S. 273) aufnehmen. Es existieren aber nur „drei Sammlungen [von Selbstzeugnissen], die eigene Einrichtungen sind, und nicht Teil einer größeren Archivinstitution“ (S. 271); und zwar das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen sowie die Sammlung Frauennachlässe und die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (beide in Wien).

Zudem nimmt Gerhalter in diesem Teil eine vertiefte Analyse von Sammlungsbeständen entlang der beiden Ebenen „soziale Schicht“ und „Geschlecht“ vor. Sie fragt stichprobenartig nach der Zusammensetzung der Bestände: Enthalten die Sammlungen Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen? Und wie verteilen sich die Tagebücher auf Männer und Frauen? Sie geht also der populären Annahme auf den Grund, dass vor allem bürgerliche Frauen Tagebuch geschrieben haben sollen. Diese Annahme lässt sich teilweise bestätigen: Zum einen gibt es in den untersuchten Beständen nur „einzelne Nachweise“ von Tagebüchern, die „in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen geschrieben wurden.“ (S. 322) Allerdings lässt sich zugleich sagen: „Mit retrospektiv verfassten Texten sind (ehemalige) Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen in den Beständen sehr gut vertreten.“ (S. 323) Die „Unterschiede in Bezug auf verschiedene auto/biografische Genres“ (S. 341) differenzieren auch das Bild auf der Analyseebene Geschlecht. Dennoch lässt sich bei der Unterscheidung in (retrospektiv niedergeschriebene) „lebensgeschichtliche Texte“ und diaristische Aufzeichnungen nicht sagen, dass Frauen generell eher Tagebuch schreiben, während Männer eher lebensgeschichtliche Texte verfassen. Es müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden: So finden sich etwa im Bestand der Dokumentation lebensgeschichtliche Aufzeichnungen in Wien sehr viele Tagebücher, die von Männern verfasst wurden, und zwar von Soldaten während der zwei Weltkriege. (S. 349) Offensichtlich können solche einschneidenden Ereignisse als „Biografiegeneratoren“ (Alois Hahn) wirken.

In der Einleitung behauptet die Autorin nonchalant, dass die beiden Teile weder „in einem direkten Bezug zueinander“ stehen noch einer „genealogischen Logik“ (S. 10) folgen. Tatsächlich sind die einzelnen Kapitel in sich abgeschlossen und lassen sich separat lesen. Ihr Zusammenhang, wenngleich er sich erst auf den zweiten Blick erschließen mag, macht aber den Reiz der Studie aus: Die Autorin stellt, indem sie der Rolle von Tagebüchern als Quellen in der Wissenschaftsgeschichte in der longue durée seit 1800 (S. 251) nachgeht, die in der „Neuen Geschichtsbewegung“ entstandenen Forschungspraktiken in eine Tradition, die aus der Pädagogik und der Psychologie kommt. Die Geschichtswissenschaft tritt zwar erst zu einem Zeitpunkt auf den Plan, an dem Tagebücher in diesen beiden Forschungsfeldern „keine größere Rolle mehr“ (S. 254) spielten. Dennoch haben Vorstellungen vom Tagebuchschreiben, die dort entstanden waren, die Geschichtswissenschaften nachhaltig geprägt: Charlotte Bühlers jugendpsychologische Forschungen zum Tagebuch Anfang des 20. Jahrhunderts etwa waren es, die die Motivation zum Tagebuchschreiben als „inneres Bedürfnis“ (S. 377) erklärten und die Vorstellung von Tagebüchern als „verschriftlichten Geheimnissen“ (S. 363) etablierten. Durch das Historisieren von Tagebüchern als wissenschaftliche Quellen schärft Gerhalter den Blick dafür, wie diese Quellen wahrgenommen und überhaupt erst als solche hergestellt werden.

Mit dem Fokus auf Arbeitswege und Wissenschaftspraktiken in ihren zeitspezifischen Ausformungen über das 19. und 20. Jahrhundert hinweg kann Gerhalter zeigen, dass die „inhaltlichen Schwerpunkte der selbstzeugnisbasierten Forschungs- und Sammlungstätigkeiten […] einen wesentlichen Einfluss darauf [hatten und haben], welche auto/biografischen Formate überhaupt wissenschaftlich wahrgenommen und damit sichtbar gemacht wurden“. (S. 12) So war eben diese Wahrnehmung in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich konturiert: Das Herstellen „standardisierte[n] Wissen[s] über die menschliche Entwicklung“, um das es der Pädagogik und der Evolutionsbiologie und -psychologie ging, interessierte und produzierte andere Selbstzeugnisse als die Geschichtswissenschaften seit den 1980er-Jahren, die, wie Gerhalter es nennt, aus „zivilgesellschaftliche[n] Ansprüche[n]“ (S. 11) heraus wuchs: Das Erschließen von Tagebuchquellen jenseits der „Höhenkammliteratur“ war der „dinghafte Ausdruck für die veränderten Vorstellungen davon, welche Personengruppen überhaupt im Interesse der historischen Forschung stehen.“ (S. 252)

Zudem, das hebt Gerhalter zu Recht besonders hervor, haben so die Entscheidungen, „welche Texte […] gesammelt, beforscht und veröffentlicht werden […] einen Einfluss auf die aktuellen – und die zukünftigen – auto/biografischen Praktiken der Rezipient/innen der Ergebnisse.“ (S. 253) Gerhalter betont aber auch einen weiteren Aspekt der verflochtenen Beziehung von Forschungsinteressen, Sammlungstätigkeit und autobiografischen Praktiken. Denn im Zuge der Einrichtung von Selbstzeugnis-Sammlungen werden die Übergeber/innen zu Handelnden: Sie entscheiden, was sie an die entstandenen Archive weitergeben – und an welche Archive. Gerhalter begreift daher diese Übergeber/innen als „Citizen Scientists“ (S. 12, 405) und widmet ihnen ein eigenes Unterkapitel (3.4).

Gerhalter skizziert so drei größere Entwicklungen, die die heutige Selbstzeugnisforschung konturieren: Erstens lässt sich, vielleicht erwartbar, die „zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der wissenschaftlichen Arbeit“ (S. 403) zeigen. Zweitens zeichnet sich die aktuelle historisch-kulturwissenschaftliche Tagebuchforschung – im Kontrast zu den Fachgeschichten der Pädagogik und der Psychologie – durch eine intensive Auseinandersetzung mit „genretheoretische[n] Fragestellungen“ (S. 404) aus, wie Gerhalter in Kapitel 4 exemplarisch vorführt. Und drittens rücken damit die Autor/innen der Quellen stärker in den Mittelpunkt. Sie sind nicht einfach „Proband/innen“, sondern es geht „nun darum, sie selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre individuellen Lebensgeschichten zu erinnern und für eine interessierte Öffentlichkeit sichtbar zu machen.“ (S. 405)

Li Gerhalters Studie ist sorgfältig konzipiert und souverän geschrieben. Sie lässt sich ausgezeichnet als Begleiter für den Archivdschungel der Selbstzeugnisforschung im deutschsprachigen Raum nutzen und zugleich ist sie Inspiration, wie sich ein Forschungsprojekt mit Selbstzeugnissen gestalten ließe. Zuletzt sei noch der fast liebevolle Umgang mit den vielen zitierten Quellen anzumerken, die Gerhalter mit gutem Sinn für die Lesbarkeit einer umfangreichen Studie ausgewählt hat.

Editors Information
Published on
Author(s)
Contributor
Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review